COVID-19 – Von einer Gesundheitskrise zu einer Kinderrechtskrise

von Samia Kassid

Die COVID-19-Pandemie ist nicht die erste Pandemie, die die Menschheit bewältigen muss, aber sie wird dauerhafte Auswirkungen auf jedes Land, jede Gesellschaft und insbesondere auf Kinder und Jugendliche haben. Bereits in der Vergangenheit kam es zu verheerenden Pandemien. Am bekanntesten waren der Schwarze Tod im 14. Jahrhundert und die spanische Grippe, die nach dem Ersten Weltkrieg 50 bis 100 Millionen Menschen, meist zwischen 20 und 40 Jahre, tötete. In den vergangenen Jahrzehnten war die Welt mit globalen Pandemien, wie HIV/Aids, SARS und Ebola konfrontiert.

Dennoch hatten keine der Maßnahmen, die jemals zur Bekämpfung einer Pandemie ergriffen wurden, so massive und weitreichende Konsequenzen, wie wir sie jetzt erleben. COVID-19 entwickelt sich von einer Gesundheitskrise zu einer globalen Krise für die Menschheit, für Gesellschaften, für die globale Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Die meisten Länder haben strenge Ausgangssperren, Reiseverbote und Einschränkungen des Alltages erlassen einschließlich der Schließung von  Kindergärten, Schulen und Unternehmen. Der Stillstand der Welt wirkt sich auf alle Bereiche aus und macht deutlich, wie eng unsere Welten miteinander verflochten sind. Die Auswirkungen dieser beispiellosen Situation auf das Wohlergehen der jüngeren Generation offenbart sich zunehmends je länger der lockdown anhält.

Von einer Gesundheitskrise hin zu sozio-ökonomischen und humanitären Tragödien

Derzeit können Millionen von Menschen nicht arbeiten und Einkommen erzielen, ihren Lebensunterhalt verdienen oder ihre Jobs sind gefährdet. Da die Volkswirtschaften weltweit stagnieren, leiden insbesondere die kleineren Geschäfte, Selbstständige, ArbeiterInnen ohne festes Arbeitsverhältnis, ArbeitsmigrantInnen und vor allem TagelöhnerInnen unter dem Lockdown. Ein Großteil von ihnen lebte bereits vor der COVID-19-Krise in Armut, ohne Ersparnisse und ohne Sicherheitsnetz. Das Wegfallen des Familieneinkommens und die soziale Isolation verschärfen den Stress der Familien und deren Kinder. 

Die Pandemie und die Rechte der Kinder

Die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Krise wirken sich auf Kinder weltweit unterschiedlich aus, unabhängig des Landes, der Region, der städtischen oder ländlichen Situation. Kinder und junge Menschen, ob in Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern, sind Leidtragende der Krise. Binnen kurzem wurden ihnen der Zugang zu Bildung und Informationen und ihre Rechte auf Spiel und Freizeit oder auf Privatsphäre erheblich eingeschränkt.

Das Recht auf Bildung und das Recht auf Spiel und Freizeit sind in Gefahr

Nach Angaben der UNESCO haben 191 Länder vorübergehend die Schließung von nationalen oder lokalen Schul- und Kinderbetreuungsstätten veranlasst. Über 90 % der SchülerInnen weltweit sind davon betroffen – und die Bildung von mehr als 1,6 Milliarden Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter wurde unterbrochen. 

Schulen sind mehr als Bildungseinrichtungen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil von Gemeinschaft und ein Zentrum sozialer Aktivität. Schulschließungen führen auch dazu, dass viele Kinder und Jugendliche ihre sozialen Kontakte verlieren. Doch genau diese sind für Kinder sehr wichtig, um zu lernen und sich zu entwickeln. Die Unterbrechung der Bildung betrifft insbesondere schutzbedürftige Mädchen und Jungen. Sie haben größere Schwierigkeiten zu lernen und steigen schneller aus der Schule aus. Je länger diese Unterbrechung ohne zeitliche Eingrenzung dauert, desto größer sind die Nachteile für die SchülerInnen. 

Für Kleinkinder und SchülerInnen in den meisten Industrie- und Schwellenländer, die meist in der Stadt leben, bedeutet die Schulschließung in kleinen beengten Wohnungen zu leben, ohne Platz zum Spielen und mit wenig Privatsphäre. Dort, wo es angeboten wird, fordert der digitale Unterricht sowohl Kinder, Eltern als auch das Bildungssystem heraus. Denn die Schließung der Schulen ist auch ein großer Stressfaktor für Lehrpersonal und Eltern, die sich nicht darauf vorbereiten konnten und ohne vorherige Erfahrung zum Fernunterricht übergehen mussten. Eltern müssen zusätzlich die Herausforderung meistern, meist im Home Office von zuhause zu arbeiten und gleichzeitig die Kinder zu betreuen. 

Besonders herausfordernd ist die Situation für Kinder aus benachteiligten Familienverhältnissen. Nicht alle Familien haben Internet, Computer oder Bücher, und Eltern können aufgrund ihres begrenzten Bildungs- oder Sprachen Hintergrundes nicht bei den Hausarbeiten helfen. Es ist daher offensichtlich, dass ungleiche Bildungschancen aufgrund des sozialen Hintergrunds zunehmen werden. 

Die Situation im globalen Süden verschärft sich durch die Krise, da Kinder auch ohne COVID-19 bereits täglich mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung zu erhalten. Für Millionen der ärmeren Familien findet das Leben “auf der Straße” statt, und ihre kleinen Hütten bieten lediglich einen Schlafplatz, jedoch kaum Platz zum Lernen. Geschlossene Schulen bedeuten für die meisten Kinder daher auch, zu Hause zu bleiben und keine angemessene Lernumgebung zu haben. Bereits vor COVID-19 waren rund 250 Millionen Mädchen und Jungen aufgrund von Armut, schlechter Regierungsführung oder wegen anderer Notsituationen, wie Bürgerkriege, nicht zur Schule gegangen. Jetzt ist diese Zahl noch in die Höhe geschossen.

Es wird befürchtet, dass Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien nach der Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen möglicherweise nicht mehr zu diesen zurückkehren. Die großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit denen viele Familien konfrontiert sind könnten dazu führen, dass Kinder sich gezwungen sehen, arbeiten zu gehen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Dies betrifft Mädchen und Jungen gleichermaßen. In Krisensituationen wie die jetzige ist die Wahrscheinlichkeit, dass Mädchen und Jungen der Schule fern bleiben, sogar doppelt so hoch.

Spielen und Freizeit wurden ebenfalls so plötzlich ausgesetzt, dass der Internetkonsum vieler Kinder (sofern es sich die Eltern leisten können) erheblich gestiegen ist, möglicherweise ohne angemessene Aufsicht.  Auch das Sportangebot wurde stark eingeschränkt mit geschlossenen Sportanlagen und Kinderspielplätzen. Berufstätige Eltern, die keine andere Möglichkeit haben, könnten gezwungen sein, ihre Kinder allein zu Hause zu lassen, häufig mit verbundenen Risiken. Kinder und Jugendliche mit eingeschränktem Zugang zu Informationen wird die Möglichkeit genommen, zu verstehen, was derzeit in der Welt passiert und sie betrifft. Das könnte sie verängstigen oder möglicherweise traumatisieren, vor allem, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden oder, wenn Nachbarn oder Familienmitglieder krank werden oder sterben und sich die Behörden einschalten müssen. 

Das Recht auf Zugang zu Gesundheitsdiensten, Wasser und Sanitär sowie das Recht auf Schutz sind bedroht

n vielen armen Ländern und Gemeinden besteht für Kinder das Risiko, dass sie nicht die notwendigen medizinischen Behandlungen erhalten. Die ohnehin schwachen und jetzt überlasteten öffentlichen Gesundheitssysteme konzentrieren sich derzeit auf die Behandlung von COVID-19 PatientInnen. Doch Neugeborene und Kleinkinder sind oft nicht vor vermeidbaren Krankheiten, wie Malaria, Durchfall oder Lungenentzündungen geschützt. Schlimmer noch, Millionen weiterer Kinder und deren Familien haben keinen gesicherten Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen und haben so kaum eine Chance, sich von einer Ansteckung zu schützen. 

Besonders gefährdete Kinder und Jugendliche sind stärker von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung bedroht. Die soziale Isolation könnte Säuglingen, Kindern und Jugendlichen in den eigenen vier Wänden zur Gefahr werden, da sie (sexueller) Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch ausgesetzt sein könnten. Ohne die Außenwelt, weil Schulen, Freunde und andere Familienmitglieder, Institutionen und Jugendhilfen nicht erreichbar sind, fehlen Ansprechpersonen und Hilfe. In instabilen Ländern könnten SchulabrecherInnen Opfer von Kinderarbeit, Zwangsheirat, Menschenhandel, Ausbeutung und Rekrutierung in Milizen werden.

Von einer Gesundheitspandemie hin zu einer Hungerpandemie

Während die Welt damit beschäftigt ist, die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, sind schätzungsweise 135 Millionen Menschen von Hunger und 30 Länder des Südens von einer weit verbreiteten Hungersnot bedroht. Bereits heute sind in zehn dieser Länder mehr als eine Millionen Menschen dem Hunger ausgesetzt.

Auf dem afrikanischen Kontinent litten die Menschen bereits lange vor COVID-19 unter Nahrungsmittelknappheit. Die seit Monaten tobenden Heuschreckenschwärme, die Klimakrise sowie Kriege verschärfen diese heikle Situation. Und da die Handels- und Lieferketten aufgrund der COVID-19-Maßnahmen unterbrochen sind, besteht die Gefahr, dass in den nächsten Monaten weitere 130 Millionen Menschen verhungern. 

Kinder sind besonders anfällig für Hunger und Unterernährung. Mehr als 360 Millionen SchülerInnen verlassen sich täglich darauf, in der Schule kostenlose oder günstigere und vor allem nahrhafte Mahlzeiten zu erhalten, die für die Entwicklung ihres Immunsystems und ihres Wachstums essentiell ist.

Eine besonders gefährdete Gruppe von Kindern sind Flüchtlingskinder, Migrantenkinder und von anderen Konflikten betroffene Kinder, die traumatisiert und in überfüllten Unterkünften und unter schwierigen Bedingungen ohne Zugang zu den grundlegenden Leistungen leben. Sollte die Pandemie ihre Schutzzonen erreichen, sind ihre Sicherheit und ihre Gesundheit weiteren Herausforderungen ausgesetzt. Daher fordert der Ausbruch der Pandemie auch einen globalen Waffenstillstand.

Kinder zuerst! Das Wohl des Kindes muss jetzt und nach COVID-19 Vorrang in der Politik haben.

Da die Welt in eine globale Rezession mit noch ungewissen Ergebnissen für die Volkswirtschaften rutscht, ist es nicht nur wichtig aus dieser Krise zu lernen, sondern auch eine gerechtere und gesündere Welt wieder aufzubauen. Dabei muss das Kindeswohl  im Mittelpunkt der Politik stehen. 

Der World Future Council fordert Regierungen und politische EntscheidungsträgerInnen auf, die besonderen Risiken und Bedürfnisse von Mädchen, Jungen, schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen bei ihren kurz- und mittelfristigen Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19 zu berücksichtigen. Eine “Einheitsstrategie” berücksichtigt gefährdete Kinder und Jugendliche nicht. 

 Alle jetzt getroffenen Entscheidungen werden sich langfristig auf die Rahmenbedingungen auswirken, die Mädchen und Jungen vorfinden, um ihr (zukünftiges) Potenzial zu entfalten. Es ist ein Gebot der Generationengerechtigkeit, alle Maßnahmen zu ergreifen, um Kinder und junge Menschen sowie ihre Rechte zu schützen. Denn die jetzige und die kommenden Generationen werden die Hauptlast der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie tragen, mit weitreichenden negativen Folgen. 

Der World Future Council hat gute, wirksame und zukunftsgerechte politische Lösungen zusammengestellt, die inspirierende Grundlagen für gute politische Entscheidungen liefern; sie betreffen die Rechte auf Schutz, Bildung und Teilhabe sowie das Recht auf einer gesunden und intakten natürlichen Umwelt und den Zugang zu gesunder und nahrhafter Nahrung. Die politischen EntscheidungsträgerInnen stehen vor der Entscheidung, Leben zu retten und gleichzeitig das Potenzial für künftiges Wohlergehen zu sichern, indem sie Kinder an die erste Stelle setzen. Kinder und Jugendliche stellen heute das Potenzial jeder Nation in Bezug auf wirtschaftliches und soziales Wohlergehen dar. Der World Future Council fordert die Regierungen nachdrücklich auf, Kinde und junge Menschen in den Mittelpunkt des politischen Handelns von COVID-19 zu stellen damit auch unsere Zukunft geschützt ist.